Blog | 29.06.2023

Musikwelten des tschechischen Wien

Verfasser: Zita Skořepová

Anfang des Jahres veröffentlichte die Koniasch Latin Press in Prag ein Buch mit dem Titel “Hudební světy české Vídně. Menšina a identita v 21. století”, das sich mit den Musik- und Tanzaktivitäten der tschechischen Minderheit in Wien beschäftigt. Die Autorin Zita Skořepová, Wissenschaftlerin am Institut für Ethnologie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, hat uns ihre persönlichen Eindrücke von dem Buch geschildert.

Als wir 2010 ein gemeinsames Seminar mit unseren Wiener Kollegen an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karlsuniversität in Prag abhielten, erwähnte die führende österreichische Musikethnologin, Professor Ursula Hemetek, während unserer Diskussion die tschechische Minderheit in Wien. Keiner ihrer Studenten hatte jedoch über die Tschechen in Wien geforscht. Damals war mir dieses Thema nicht ganz unbekannt, da ich gerade meine Magisterarbeit über die musikalischen Aktivitäten ausländischer Gemeinschaften in der Tschechischen Republik abschloss.

Im Jahr 2011 kam ich zum ersten Mal nach Wien, um Voruntersuchungen durchzuführen, und seitdem bin ich bis heute regelmäßig als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie des CAS tätig. Meine Forschung war von Anfang an nicht auf Vertreter eines bestimmten Musikstils oder Genres ausgerichtet. In meiner Feldforschung, bei der ich verschiedene Musik- und Tanzveranstaltungen beobachtete und deren Hauptakteure befragte, ging es mir um Fragen mit breiterer gesellschaftlicher Relevanz: Was könnten Musik und Tanz für Tschechen in Wien angesichts ihrer unterschiedlichen Situiertheit und Bindung an ihre tschechischen Wurzeln bedeuten?

Ich wollte die Lebensgeschichten und die Form des heutigen Lebens und die Bedeutung von Musik und Tanz unter den alten Dorfbewohnern, ehemaligen Flüchtlingen und Emigranten aus der Tschechoslowakei und Menschen, die erst vor wenigen Jahren nach Österreich gekommen sind, kennen lernen. Ich habe versucht, die dritte und nächste Generation der Nachkommen von Tschechen in Wien nicht auszusparen, die in Österreich zu Hause sind und deren musikalische Aktivitäten sich nicht vorrangig an ein Minderheitenpublikum richten.

Als eine der ersten Vereinigungen habe ich mich mit dem Komenský-Schulverein beschäftigt. Mich faszinierte das Phänomen der Repräsentations- und Abschlussbälle, bei denen ich nicht nur den Tanz der tschechischen Beseda, sondern auch das übrige Programm mit Erstaunen verfolgte. Die Leitung der Komenský-Schule und bestimmte Lehrer waren bereit, mich zu empfangen, und ich konnte einen Einblick in den Musikunterricht der allgemeinbildenden Schule und des Gymnasiums gewinnen. In dem Buch beschäftige ich mich daher nicht nur mit den sich wandelnden Formen des Musikunterrichts an den Komenský-Schulen im historischen Kontext, sondern auch mit der Frage, was der Musikunterricht heute über das Verhältnis zur tschechischen Kultur und zur Tschechischen Republik (in vielen Fällen von Schülern und Lehrern als Herkunftsland einiger Vorfahren) aussagen kann und wie die Schule im Umfeld des heutigen Österreich und des multikulturellen Wiens funktioniert? Neben anderen Vereinen und ihren Aktivitäten konzentriert sich das Buch auf den Sokol Wien und insbesondere das Phänomen der Mährischen Feste, die wiederbelebte Gesangsgruppe Lumír und schließlich den beispiellosen Anstieg der Zahl und Bedeutung der Folkloregruppe Marjánka.

Das Buch bildet Musik- und Tanzaktivitäten vor allem aus dem Jahrzehnt 2012-2022 ab, darunter ein Kapitel über den inzwischen leider aufgelösten Club Nachtasyl. Die Recherchen zeigen, dass das Nachtasyl nicht nur ein Treffpunkt und Produktionsort für tschechische Exilanten und viele Chartisten war, sondern eine Zeit lang auch ein Zufluchtsort für Vertreter der österreichischen alternativen Musikkultur. Auch einige der jüngsten Generation von Tschechen in Wien reflektierten ihre tschechische Identität über ihre Beziehung zu diesem Unternehmen.

Ich muss zugeben, dass die Recherchen in Wien für mich nicht nur äußerst interessant, sondern auch persönlich sehr bereichernd waren, weil ich viele biografische Erzählungen über einzigartige und unterschiedliche Schicksale gehört und die Vielfalt der tschechischen Minderheit kennengelernt habe, die die Monografie zumindest in den markantesten Umrissen und mit dem Fokus auf Musik und Tanz in Bezug auf tschechische Identität und durch verschiedene Gründe bedingte Migration zu erfassen versucht.

Das Buch richtet sich nicht nur an Interessierte aus den Bereichen Musikethnologie, Migrations- und Diasporastudien und soziokulturelle Anthropologie/Ethnologie im Allgemeinen. Indem es Momente konkreter Ereignisse aufgreift und deren Hauptakteure vorstellt, will es auch ein breiteres Publikum ansprechen, das sich für das Leben und die Kultur der zeitgenössischen Auslandstschechen interessiert.