Blog | 05.06.2025
Ein Abend für den Kopf und für die Seele – beobachtet von Anja Krystyn

Es sollte nur ein unterhaltsamer Abend werden. Dass er meine Familiengeschichte und somit mein Herz so berühren würde, hatte ich nicht erwartet. Im Saal des Instituts für Slawistik setzte ich mich in die erste Reihe, um die Lesung von Maria Safrata aus ihrem Buch „Einfach?“ gut zu hören. Vor allem wollte ich das Spiel und den Gesang der Gruppe Marjánka mit ihren schönen Kostümen aus der Nähe beobachten.
Schon beim ersten Lied fuhr die Musik in meine Seele. Als dann die Autorin über die Flucht ihrer Familie aus der kommunistischen Tschechoslowakei las, schossen die Erinnerungen an meine Kindheit in mir hoch. Die Angst an der Grenze, die Erleichterung, als uns die Grenzbeamten passieren ließen, die Unsicherheit am Beginn des neuen Lebens in Freiheit. Eine neue Existenz in der Emigration aufzubauen kostete viel Kraft.
Aus der alten Heimat ist uns nichts geblieben außer der Musik. Die Lieder von Marjánka erinnerten mich an die Atmosphäre in meiner Familie damals. Wir mussten kämpfen, wussten aber immer, dass es gelingen würde. Auch wenn wir unsere Sprache zurückgelassen hatten, brachten uns die Lieder der Heimat Freude und Sicherheit. Marjánka verkörpert für mich auch die Haltung, dass es sich lohnt, die Dinge gut zu machen. Die Gruppe ist sehr gut organisiert, das bravouröse Spiel der Musiker gab den schönen Melodien zusätzliche Brillanz. Dass auch die Kinder beim Spiel und Gesang fröhlich mitmachten, hat davor sicher viel Übung gekostet. Jetzt kam nur die Freude heraus.
Zum Abschluss sangen wir alle „Tancuj, tancuj, vykrúcaj“, das ich am liebsten mitgetanzt hätte. Ich habe es lange nicht gesungen, konnte trotzdem alle drei Strophen auswendig. Auf den tschechischen Sommerlagern in Südtirol haben wir es oft am Lagerfeuer gesungen.
Der Abend brachte mir schöne und wehmütige Gefühle. Diesen Ausdruck sah ich auch in manchen Gesichtern des Publikums, das begeistert klatschte. Die Lieder haben für mich eine neue Bedeutung bekommen, die noch länger nachwirken wird.
Über Anja Krystyn
Sie ist Ärztin, Autorin und Moderatorin, die in Ostrava (ehemalige Tschechoslowakei) geboren wurde und seit ihrem siebenten Lebensjahr in Österreich lebt. Ihre Tätigkeiten für Medien und Theater führten sie nach Bologna, New York und Berlin. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit engagiert sie sich für den Kampf gegen MS, an der sie seit ihrer Studienzeit leidet. Zu ihren bekanntesten Büchern gehören „Die Beine der Spitzentänzerin“ und „Die rollende Venus“. Nähere Informationen zur Autorin finden Sie unter www.anjakrystyn.eu.
Foto: Harald Lachner